L. M. Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker

Gemelli Marciano, Laura M. (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Bd. 1. Griechisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen. Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit. Düsseldorf 2007 : Artemis & Winkler, ISBN 978-3-7608-1735-4 480 S. € 54,90

Gemelli Marciano, Laura M. (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Bd. 3. Griechisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen. Anaxagoras, Melissos, Diogenes von Apollonia. Die antiken Atomisten: Leukipp und Demokrit. Mannheim 2010 : Artemis & Winkler, ISBN 978-3-538-03502-7 636 S. € 54,90

Gemelli Marciano, Laura M. (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Bd. 2. Griechisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen. Parmenides, Zenon, Empedokles. Düsseldorf 2009 : Artemis & Winkler, ISBN 978-3-538-03500-3 € 49,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

Die ‚Vorsokratiker‘ gab es natürlich auch schon vor Hermann Diels.1 Und doch haben er und der etwas später hinzu gestoßene Walther Kranz mit ihrer Ausgabe der Fragmente dieser Philosophen den Zugriff der modernen Forschung auf das frühgriechische Denken von Thales bis zu Demokrit und den Sophisten wesentlich geprägt. Keine der neueren Sammlungen2 hat es seither geschafft, den ‚Diels-Kranz‘ zu ersetzen, in deren Zählung die Vorsokratiker zumeist noch heute angeführt werden. Dabei zeigt das 1903 erstmals erschienene Werk inzwischen einige Alterserscheinungen. Die von der in Zürich wirkenden Altphilologin Laura Gemelli Marciano in der Tusculum-Reihe herausgegebene Auswahl, deren drei Bände nun vollständig vorliegen, dürfte der Vorsokratiker-Forschung daher als neues Arbeitsinstrument durchaus willkommen sein: Sie bietet sowohl eine Quellenedition auf neuestem Stand als auch umfangreiche Erläuterungen, die die Ergebnisse und Fragen der modernen Forschung aufgreifen.3

Die drei Bände bieten auf insgesamt 1.480 Seiten einen repräsentativen und recht umfangreichen Kanon der wichtigsten Vorsokratiker (der die Sophisten, wie heute allgemein üblich, aber ausklammert).4 Auch finden sich einige neue Fragmente aus bisher nicht berücksichtigtem literarischen Material sowie aus neu entdeckten Inschriften und Papyri. Am wichtigsten sind in diesem Zusammenhang sicher die in Straßburg entdeckten Empedokles-Fragmente. Griechischer bzw. lateinischer Originaltext und deutsche Übersetzung werden parallel gedruckt, Quellen aus anderen Sprachen (etwa aus dem Arabischen) dagegen nur in deutscher Übersetzung. Die thematische Anordnung der Fragmente erleichtert das Finden von Texten und Zusammenhängen. Testimonien und Fragmente sind gleichberechtigt aufgeführt, wobei gesicherte (oder sehr wahrscheinliche) Originalzitate fett hervorgehoben werden. Durch den Abdruck vieler Zitate in ihrem antiken Überlieferungskontext bleiben dabei die jeweiligen Interessen und Annahmen der antiken Überlieferer erkennbar. Ausführliche Kommentare erschließen die einzelnen Fragmente sowohl auf inhaltlicher als auch auf philologischer und textgeschichtlicher Ebene. Die Ausgabe bietet zudem einen Index locorum, eine Konkordanz zu Diels-Kranz sowie ausführliche und aktuelle Literaturhinweise. Das Fehlen eines thematischen Index sowie eines ausführlicheren Inhaltsverzeichnisses, das nicht nur die Haupt-, sondern auch die zahlreichen Zwischenüberschriften wiedergibt, erschwert jedoch den schnellen Zugriff auf das Material.5

Interessant machen die Sammlung aber vor allem die ausführlichen Einleitungen und Kommentare, die die Vorsokratiker zum Teil auf sehr anregende Weise in neuem Licht erscheinen lassen.6 Gemelli liest die einzelnen Denker nicht von vornherein aus der Perspektive der späteren Philosophiegeschichte, sondern erklärt sie in ihrem jeweils eigenen kulturhistorischen Kontext. Dabei beleuchtet sie auch Aspekte, die in der gängigen Philosophiegeschichtsschreibung eher am Rande stehen: so etwa die religiös-esoterischen und mystischen Aspekte bei Parmenides und Empedokles oder die biologischen Lehren des Diogenes von Apollonia, um nur zwei Beispiele zu nennen. Sie hebt außerdem hervor, dass sich die Vorsokratiker selbst weder als ‚Philosophen‘ – in dem Sinne, den der Begriff im 4. Jahrhundert v.Chr. annahm – noch als Teil einer spezifisch philosophischen Diskursgemeinschaft sahen. Die Geschichte der frühen griechischen Philosophie deutet Gemelli daher auch nicht als dialektisch aufsteigenden Entwicklungsprozess, in dem sich ‚Philosophen‘ nur oder in erster Linie auf andere ‚Philosophen‘ bezogen und damit Schritt für Schritt verschiedene Probleme gelöst haben, die sich erst aus späterer Sicht überhaupt stellten (vgl. Bd. 1, S. 379–385).7 Vielmehr zeigt sie, dass und wie die einzelnen Denker jeweils in ganz verschiedenen – historischen, politischen, kulturellen und intellektuellen – Kontexten gewirkt haben. Als wichtigen Faktor betont sie dabei auch das Konkurrenzverhältnis, in dem die Denker nicht nur zu ihresgleichen, sondern auch zu Dichtern, Gelehrten, ‚weisen Männern‘ oder zu Ärzten und anderen Fachleuten standen. Mag dieser Aspekt sicher eine wichtige Rolle gespielt haben, erscheint er doch zum Teil etwas überbetont. Schließlich lässt sich die Dynamik des philosophischen Denkens nicht auf das Bestreben reduzieren, sich im Diskurs zu behaupten, sondern entspringt – so möchte man denken – auch der inneren ‚Wahrheitssuche‘ des Philosophen.

Einen Schwerpunkt der Interpretation bildet die Kontextualisierung der Vorsokratiker. Gefragt wird nach der Funktion, Intention und den Adressaten der Texte, dem je unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontext und der Selbstwahrnehmung und -darstellung der einzelnen Denker.8 So ist Xenophanes’ radikale und wegweisende Kritik am anthropomorphen Götterbild Homers und Hesiods nicht ohne sein Wirken als Rhapsode zu verstehen, als welcher er seine eigenen Texte vortrug und damit in Konkurrenz zu den Rezitatoren der beiden großen Dichter trat.9 Dass Anaxagoras’ Beweisführungen (den modernen Leser) nicht immer überzeugen, sei andererseits darauf zurückzuführen, dass seine Schrift „einen mündlichen Vortrag wiedergibt, dessen Ziel es nicht ist, eine im modernen Sinne in allen Details konsequente und kohärente Theorie darzustellen, sondern ein gelehrtes Laienpublikum zu überzeugen und zu beeindrucken“ (Bd. 3, S. 108). Die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des parmenideischen Gedichts verweisen für Gemelli darauf, dass man es mit einem esoterischen Text zu tun habe. Dabei sei es Parmenides weniger darum gegangen, seinem Zuhörer ein bestimmtes Wissen über die Welt und das Wesen des Seins zu vermitteln, er habe ihn vielmehr in seinem Denken aufrütteln wollen. Parmenides liefere daher „keine klare Darstellung des Seienden, sondern vielmehr ‚Bilder‘, die zugleich auf semantischer, syntaktischer, phonetischer und rhythmischer Ebene gezeichnet werden und tief auf die Seele einwirken“ (Bd. 2, S. 65). Um solche Aspekte zu erfassen, wird häufig auch die sprachliche Form der Texte in die Analyse mit einbezogen.

Einen wichtigen Aspekt bildet außerdem die antike Überlieferung und Interpretation, die für jeden der behandelten Vorsokratiker nachgezeichnet wird. Gemelli zeigt dabei, wie sich die spätere philosophische Tradition die Gedanken der früheren Denker angeeignet und im Sinne der eigenen Philosophie (um)gedeutet hat. Auch wenn all das natürlich nicht ganz neu ist, kann es sicher als Stärke der Ausgabe gelten, dass diese Perspektive bei der Interpretation des Quellenmaterials konsequent berücksichtigt wird. Dass wir die Vorsokratiker durch das Prisma der antiken Überlieferung lesen müssen, führt schon der Abdruck vieler Fragmente und Testimonien in ihrem antiken Überlieferungskontext anschaulich vor Augen. Wenn dabei derselbe vorsokratische Gedanke von unterschiedlichen Autoren ganz unterschiedlich gedeutet und für die eigene Argumentation nutzbar gemacht wird, zeigt dies sowohl die Bandbreite als auch die potenzielle Problematik der antiken Überlieferung. Dass dabei auch die moderne Forschung zum Teil Konzepte und Fragestellungen den einzelnen vorsokratischen Denkern zugeschrieben hat, die erst spätere antike Interpreten in sie hineingelesen haben, kann Gemelli ebenfalls verschiedentlich zeigen. Auch versucht sie nicht, aus dem heterogenen Quellenmaterial eine einheitliche Lehre zu (re)konstruieren, wo dies die unsichere Überlieferungslage nicht zulässt; zumal es weder der Funktion der Texte noch ihrem geistesgeschichtlichem Kontext entspricht, alle Fragen zu beantworten, die etwa Aristoteles oder moderne Philosophiehistoriker an sie stellen könnten.

Ein weiteres Anliegen Gemellis ist es, einem möglichen orientalischen Einfluss auf die frühe griechische Philosophie mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, als ihm in der Forschung gemeinhin zukommt (vgl. Bd. 1, S. 375–377 u. 402–410). Dabei ist es keineswegs abwegig, dass sich speziell bei den aus dem ionischen Raum stammenden Denkern Einflüsse der persischen Kultur feststellen ließen. Dazu muss nicht einmal von direkten Kontakten ausgegangen werden, schließlich ist nach Gemelli von der „Verbreitung wesentlicher Inhalte der persischen Tradition in der griechischen Kultur“ auszugehen (Bd. 1, S. 404). Und doch hat schon Jacob Burckhardt die Frage aufgeworfen, ob nicht das, was die Griechen daraus gemacht haben, letztlich wichtiger gewesen ist als das, was sie übernommen haben.10 Zudem reicht es meines Erachtens nicht aus, auf Ähnlichkeiten zwischen dem griechischen und dem orientalischen Denken zu verweisen. Schließlich ist nicht jede äquivalente oder ähnliche Vorstellung auf einen (direkten oder indirekten) Einfluss zurückzuführen.

Als Heranführung an die Vorsokratiker wie als Arbeitsinstrument wird Gemellis Edition sicher ihren Platz in der Forschungslandschaft finden. Der zweisprachige, thematisch gegliederte Quellenteil bietet eine umfangreiche wie repräsentative Auswahl. Schon die Drucklegung veranschaulicht dabei, dass und wie die antike Überlieferung sich die Texte angeeignet und damit auch das moderne Bild geprägt hat. Dass dies auch in den Einführungen und Kommentaren immer wieder hervorgehoben wird, ist eine weitere Stärke der Ausgabe. Zudem erklärt sie die Vorsokratiker nicht nur aus Sicht der späteren Philosophiegeschichte, sondern lokalisiert sie in ihrem originären kulturellen Kontext, beleuchtet ihr Auftreten und ihre gesellschaftliche Stellung und fragt nach der Funktion und den Adressaten ihrer Texte. Gerade dies dürfte die Ausgabe neben den Philosophen auch für Klassische Philologen und Althistoriker interessant machen.

Anmerkungen:
1 Zur Entwicklung des Begriffs im Zusammenhang mit der Herausbildung der philosophiegeschichtlichen Epocheneinteilungen vgl. Bd. 1, S. 373–379.
2 Im deutschsprachigen Raum sind dies vor allem: Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenberichte. Herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Capelle, mit einem Geleitwort und Nachbemerkungen von Christof Rapp, 9. Aufl., Stuttgart 2008; Geoffrey S. Kirk / John E. Raven / Malcolm Schofield (Hrsg.), Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare von Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malcolm Schofield, Stuttgart 2001; Jaap Mansfeld (Hrsg.), Die Vorsokratiker. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, 2 Bde., Stuttgart 1999.
3 Von ebenso großer Bedeutung dürfte die in der Reihe Traditio Praesocratica begonnene Neuedition der Vorsokratiker sein. Sie dokumentiert vor allem die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, druckt die Fragmente und Testimonien in der chronologischen Folge der Autoren, bei denen sie überliefert sind, und berücksichtigt dabei sowohl die europäische Tradition bis ins Mittelalter als auch die arabische Überlieferung. Erschienen sind bisher zwei Bände: Georg Wöhrle (Hrsg.), Die Milesier. Thales. Mit einem Beitrag von Gotthard Strohmaier, Berlin 2009; ders. (Hrsg.), Die Milesier. Anaximander und Anaximenes. Mit einem Beitrag von Oliver Overwien, Berlin 2011.
4 Berücksichtigt werden: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras, Xenophanes, Heraklit (Band 1), Parmenides, Zenon, Empedokles (Band 2), Anaxagoras, Melissos, Diogenes von Apollonia, Leukipp/Demokrit (Band 3).
5 So zählt das Kapitel mit den Fragmenten und Zeugnissen zu Demokrit über 180 Seiten. Es wäre also sicher hilfreich gewesen, dem Leser eine Übersicht der thematischen Zwischenüberschriften an die Hand zu geben, damit er auf der Suche nach einer bestimmten Stelle nicht das ganze Kapitel durchblättern muss.
6 Band 1 (S. 373–465) bietet eine Einführung zum Gesamtwerk. Außerdem folgen auf die ‚Fragmente und Zeugnisse‘ in jedem Kapitel textliche ‚Erläuterungen‘ sowie eine Einführung in ‚Leben und Werk‘ des jeweiligen Philosophen.
7 Gemelli intendiert „eine Problematisierung der Vorstellung von ‚philosophischem Denken‘ an sich sowie die konsequente Abkehr von der Idee einer unabdingbaren Entwicklung dieses Denkens gemäß einer bestimmten ‚Linearität‘ – zugunsten einer nicht ‚linearen‘ Vorstellung, die von variablen zeitlichen, geographischen und persönlichen Faktoren abhängig ist“ (Bd. 1, S. 384).
8 Die „so genannten Vorsokratiker sind tief in ihrem jeweiligen sozio-historischen Umfeld verwurzelt, und ihre Schriften verfolgen vor allem kommunikative Ziele“ (Bd. 1, S. 383). „Soweit möglich“ sei daher „auch der pragmatische Aspekt des vorsokratischen Schaffens“ zu beachten: „die möglichen Beziehungen, die Zuschneidung auf den Adressaten und vor allem der kulturelle Kontext, in dem der Autor arbeitet“ (S. 384).
9 Vgl. Bd. 1, S. 255–257. Ausführlicher dazu M. Laura Gemelli Marciano, Xenophanes: Antike Interpretation und kultureller Kontext. Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte ‚Monismus‘, in: Georg Rechenauer (Hrsg.), Frühgriechisches Denken, Göttingen 2005, S. 118–134.
10 Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 3, München 1977, S. 384f.

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